26.10.2021 | News & Interviews

Startups, die durch den Magen gehen – Teil 3: AgTech & Vertical Farming

von Olivia Weindorf
Assurance
Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
von Pirmin Hamm
Assurance
Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
von Manuel Reichelt
Consulting | Digital Strategy & Transformation
Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Im ersten Teil unserer Artikel-Reihe haben wir einen Überblick über das deutsche FoodTech-Ökosystem gegeben und die sieben größten Industrietrends vorgestellt (Startups, die durch den Magen gehen – Teil 1: Das deutsche FoodTech-Ökosystem). Teil 2 ging einen Schritt weiter und startete mit einem Deep Dive in das Trend-Segment Next Generation Nutrition (Startups, die durch den Magen gehen – Teil 2: Next Generation Nutrition). Im dritten Teil widmen wir uns nun den Themen AgTech & Vertical Farming.

 

EIN BEGRIFF - UNZÄHLIGE ANWENDUNGEN

Der Begriff „AgTech“ stammt aus dem Englischen und beschreibt die Schnittstelle zwischen Landwirtschaft (oder Agrarwirtschaft) und Technologie. Das United States Studies Centre (USSC) subsumiert darunter alle Produkte bzw. Dienstleistungen, die eine patentierte Technologie enthalten oder durch diese in der landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette überhaupt erst ermöglicht werden.[1] Dabei werden AgTech-Technologien unterschiedlich klassifiziert. In den Bereich Digital Agriculture Software and Hardware fallen bspw. Sensoren oder Präzisionssoftware, die zur effizienten Vermessung von Agrarflächen genutzt werden können. Im Bereich Plant / Crop Science stehen dagegen sämtliche Modifikationen direkt an der Pflanze bzw. dem Samen im Fokus, um diese resistenter gegen Keime zu machen oder um ihre Inhaltsstoffe zu optimieren. Den Lebewesen, die für agrarwirtschaftliche Zwecke gehalten werden, widmet sich der Bereich Animal / Livestock Science. So kann beispielsweise daten-basiert das Verhalten von Rindern ausgewertet werden, um daraus Rückschlüsse auf deren Gesundheit zu ziehen. Im etwas weiteren Sinne sind sog. Post-Farm Agricultural Value Chains zu AgTech zuzuordnen. Das sind Komponenten, die in der agrarwirtschaftlichen Wertschöpfungskette erst nachgelagert auftreten. Dazu gehören neben logistischen Dienstleistungen auch Vertriebsmaßnahmen und Kooperationen mit anderen Startups (wie FinTechs) zur Abwicklung von Kaufprozessen.[2]

Aufgrund dieser weitläufigen Definition ist eine präzise Eingrenzung des aktuellen Marktvolumens schwierig. Das Finanzierungsvolumen lag 2020 in Deutschland bei rund 307 Millionen US-Dollar und betrug damit nur einen Bruchteil der global in AgriFoodTech Startups investierten 26 Milliarden US-Dollar[3]. Zum Vergleich: In Frankreich flossen im selben Zeitraum rund 660 Millionen US-Dollar in AgTechs.[4] Und obwohl die Anwendungen vielseitig und elementar wichtig sind, beschäftigen sich 2020 gerade einmal 2,1 % der deutschen Startups mit Agrarlösungen[5]. Im Vergleich beschäftigen sich immerhin 10,7 % mit anderen lebensmittelbezogenen Innovationen.[6]

Perspektivisch betrachtet muss sich dieses Engagement noch weiter erhöhen. Entwicklungen, die eine nachhaltigere und gleichzeitig gesündere Ernährung für eine stetig steigende Anzahl der Weltbevölkerung sicherstellen, sind unvermeidbar.

 

NACHHALTIGKEIT GEFORDERT: Innovationen für einen gesünderen Planeten

Um unsere Ernährungskultur nachhaltig positiv zu verändern, setzen viele Startups direkt auf unseren Tellern an. Im vorhergehenden Teil unserer Artikelreihe haben wir uns mit ihnen befasst und über Themen wie Fleisch aus dem Reagenzglas gesprochen.[7]

Doch es gibt auch Gründer, die zu einem noch früheren Zeitpunkt in der landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette ansetzen. Getreu dem Motto „back to the roots“ bietet SeedForward beispielsweise Saatgutbehandlungen an und nimmt damit seit der „Geburt“ einer Pflanze an deren Entwicklung teil. Das junge Unternehmen hat es sich zum Ziel gesetzt, durch unterschiedliche Wirkstoffe das Pflanzenwachstum und die Ertragsstabilität von Mais und unterschiedlichen Getreidepflanzen zu verbessern. Durch die chemiefreie Beschichtung der Samen vor dem Einpflanzen sollen diese resistenter gegenüber externen Einflussfaktoren werden, ihre Nährstoff- und Wassernutzung optimieren und schlussendlich eine höhere Ertragsstabilität aufweisen. Der Ansatz von SeedForward resultiert aus der Problemstellung, dass überlebensnotwendige Ressourcen durch negative Einflussfaktoren wie Klimawandel, Wasserknappheit oder Krankheits- und Schädlingsbefall immer knapper werden.[8] Die Garantie zur Nahrungsmittelsicherheit für eine weltweit immer weiter steigende Bevölkerungszahl kann langfristig nur durch den Schutz und Erhalt unseres Ökosystems sichergestellt werden.

Auch das von drei Hobby-Gärtnern gegründete Stuttgarter Startup alphabeet setzt am Anfang der Ernährungskette an. „Der Klimawandel ist die größte Herausforderung unserer Generation. Aber das grundsätzliche Problem, das es dabei zu lösen gilt, ist unser Ernährungssystem. Der Konsument ist heutzutage völlig entkoppelt vom Ursprung seiner Nahrung – aber nur eine nachhaltige Ernährung kann unseren Planeten schonen“, sagt Gründer Jens Schmelze. Eine nachhaltige Ernährung zeichne sich seiner Ansicht nach insbesondere durch Regionalität und Saisonalität der verzehrten Lebensmittel aus, aber auch durch eine möglichst fleischlose Kost. Im Rahmen der Gründung hat das Startup viele hundert Konsumenten befragt. Die Erkenntnis: „Vielen Konsumenten ist gar nicht bewusst, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen an der Supermarktkasse auf Themen wie Transport, Tierhaltung oder Emissionen haben. Dennoch haben viele Menschen Lust darauf, ihre eigenen Lebensmittel anzubauen – sie wissen jedoch nicht, wie das geht.“ Darum hat alphabeet ein digitales Produkt entwickelt, das mit Wissen und Anleitung Abhilfe verschafft. Von der Anlage der Beete bis zur Ernte und darüber hinaus – etwa in Bezug auf die Verarbeitung der Ernte oder die Nachbehandlung der Erde – bietet alphabeet Begleitung für Menschen, die sich dem Abenteuer Lebensmittelanbau stellen wollen.

Für professionelle Landwirte gibt es ebenfalls eine digitale Lösung zur optimalen Beet-Planung. Und diese kommt aus Berlin: Das Startup Smart Cloud Farming nutzt Satellitenbilder, um den Boden, auf dem später ein Beet angelegt werden soll, zu charakterisieren und darauf aufbauend Empfehlungen für eine ideale Bodenpflege zu geben. Damit soll vermieden werden, dass landwirtschaftliche Tätigkeiten – etwa durch Überwässerung oder Überdüngung – die Bodengesundheit und -fruchtbarkeit beeinträchtigen, was in der Spätfolge Umweltschäden und Wüstenbildung verursachen könnte. Stattdessen werden die Landwirte dazu empowert, von vornherein dafür zu sorgen, dass ihre Böden fruchtbar und „in Form“ bleiben. Das steigert ihre Produktivität und spart Zeit.

Aber nicht nur vegetarische Kost steht im Fokus von AgTech-Entwicklungen. Auch die tierische Landwirtschaft bekommt neue Impulse, etwa durch das Berliner Startup PerformaNat, das neue Futtermittelzusätze zur Steigerung und Erhaltung der Tiergesundheit entwickelt. Oder durch Monitor Fish, ebenfalls aus Berlin, die mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein Diagnosewerkzeug entwickelt haben, das Fischzüchtern helfen soll, ihren Fischverlust zu reduzieren. So gibt die Anwendung in Echtzeit Handlungsempfehlungen aus, etwa wenn die Fische Nahrung benötigen, ihr Gewicht sich nicht planmäßig entwickelt oder wenn die Temperatur oder Sauerstoffsättigung des Wassers einer Korrektur bedürfen. Außerdem haben Züchter die Möglichkeit, ihre Fische jederzeit live über die Handy-App zu beobachten.

 

VERTICAL FARMING: RESSOURCENMANGEL FÜHRT ZU KREATIVITÄT IM ANBAU

Knappere Ressourcen und eine steigende Bevölkerungszahl führen über die Innovationen der AgTechs hinaus aber auch dazu, dass die Organisation der Landwirtschaft als solche neu gedacht werden muss.

Das Berliner Startup Infarm hat es sich zur Aufgabe gemacht, neue Wege im Anbau von Kräutern und Salaten zu gehen. In diesem Sinne bietet es Lösungen für das sogenannte Vertical Farming an, also den landwirtschaftlichen Anbau „in die Höhe“ und nicht wie bislang üblich auf ebener Erde. Die Anlagen, in denen Salate und Kräuter angebaut werden können, werden direkt beim jeweiligen Partner vor Ort installiert. Das können Supermarkt-Filialen oder Restaurants sein. Für Großkunden ergeben sich aus der Investition spürbare Vorteile. Einerseits können Platz und Transportkosten gespart werden, andererseits können die Pflanzen bis zur optimalen Reife wachsen und einen besseren Geschmack entwickeln. Via Remote-Zugriff können Mitarbeiter zudem die Wachstumsbedingungen einzelner Kräuter überwachen und diese steuern.[9] Die Distanz zwischen Anbauort und dem Ort des Verzehrs beträgt damit quasi null. Maximale Transparenz über die Supply Chain kommt als Bonus on-top. Einige Investoren haben das Potenzial in diesem Geschäft bereits erkannt. So konnte Infarm im September 2020 stattliche 144 Millionen Euro einsammeln – und das mitten in der Corona-Pandemie![10] Über die EU-Initiative Horizon erhielt das Unternehmen im selben Jahr zudem rund eine Million Euro an Fördergeldern. Ein Zeichen für die Relevanz entsprechender Projekte bei der EU, die unterschiedliche Initiativen auf den Weg gebracht hat, um Innovationen in diesem Bereich zu fördern. [11]

Das Startup Organifarms, das seinen Sitz in Konstanz hat, hat sich ebenfalls dem Vertical Farming verschrieben. Statt Salaten und Kräutern wollen die Gründer aber Erdbeeren und perspektivisch auch weiteres Soft-Obst auf die Teller bringen. Mit ihrem ersten Produkt, einem Ernteroboter für Erdbeeren, soll dies gelingen. Bislang existiert dieser als Prototyp, soll im November mit Partnern getestet werden und seinen Marktgang Mitte 2022 erleben. Einsatz soll er in Gewächshäusern und im Vertical Farming finden, indem er die Erdbeeren pflückt, sie auf bestimmte Qualitätsmerkmale hin kontrolliert und anschließend sortiert. „Bislang war es schwierig, automatisierte Systeme in Deutschland zu entwickeln, denn die Gewächshäuser wurden oft von den Landwirten selbst gebaut, sodass keine standardisierten Maße vorlagen und die Lösungen darum höchst individualisierbar sein mussten. Der Markt in Deutschland entwickelt sich aber gerade. Vom Anbau auf dem Feld hin zu Gewächshäusern“, sagt Gründerin Hannah Brown. Dadurch werden die Systeme immer weiter standardisiert und individualisierte Anpassungen entfallen. „Leider sind die Investitionskosten oft eine große Hürde für die Landwirte“, ergänzt Gründer Dominik Feiden. Mit 1.200 bis 1.800 Euro pro Quadratmeter sind die Vertical-Farming-Systeme auch nicht gerade billig. „Für kleine deutsche Landwirte ist die Anschaffung einfach zu teuer. Insgesamt werden in Deutschland, auch von Investoren, eher kurzfristigere Investitionen bevorzugt. Das macht es schwer, Innovationen durchzusetzen.“ In anderen Ländern, beispielsweise der USA, sei die Risikobereitschaft der Landwirte (und potentieller Investoren) diesbezüglich deutlich höher. „Dort ist es okay, wenn der Return on Investment erst nach fünf oder zehn Jahren erfolgt“, schätzt Feiden ein.  

Aus diesen Gründen entwickelt sich das Vertical Farming langsam. Aber dennoch verzeichnet der Markt insgesamt ein positives Wachstum, denn: Nachhaltigkeit ist gefragt! Es findet ein Umdenken in der Gesellschaft statt, von dem Startups profitieren könnten. Aber auch die Gesellschaft als Ganze kann von den Innovationen profitieren, denn Vertical Farming ermöglicht – neben den bereits erwähnten Vorteilen – nicht nur eine Reduktion im Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln, sondern schafft auch monotone Arbeiten auf den Feldern ab, was die Lebensqualität vieler Landwirte erheblich steigern könnte.

 

AUSBLICK

Wie werden sich die Branche und ihre Innovationen in Zukunft weiterentwickeln? Insbesondere im Kontext der weiter anhaltenden COVID-19-Pandemie werden sich die bisher entstandenen Trends unserer Vermutung nach weiter verstärken. Die Pandemie hat die Verletzlichkeit von Lieferketten, auch im Lebensmittelbereich, schonungslos offengelegt. Zudem werden auch zukünftige klimatische Veränderungen uns immer wieder dazu zwingen, unsere Art des Anbaus zu überdenken und anzupassen. Dafür sind innovative Ideen und kreative Köpfe nötig. Nachhaltigkeit und Transparenz in der Lebensmittelherstellung sind bewusste Entscheidungen der Konsumenten. Diese werden sich weitestgehend unbeeinflusst durch die Pandemie weiterentwickeln. Womöglich wird es auch in Zukunft (revolutionäre) Innovationen geben, die den gesamten Sektor langfristig beeinflussen könnten. Forschern des Massachussets Institute of Technology gelang es 2020, pflanzliche Zellen in einem Labor zu züchten. Was bislang nur aus der Fisch- und Fleischindustrie bekannt war und nach wie vor mit einem Hauch von Science-Fiction behaftet ist, könnte nun also auch die Agrarbranche auf den Kopf stellen.[12]

 

 

[1] What is AgTech? — United States Studies Centre (ussc.edu.au)

[2] What is AgTech? — United States Studies Centre (ussc.edu.au)

[3] 2021 AgFunder AgriFoodTech Investment Report

[4] 2021 AgFunder AgriFoodTech Investment Report

[5] dsm_2020.pdf (deutscherstartupmonitor.de)

[6] dsm_2020.pdf (deutscherstartupmonitor.de)

[7] https://startup.ey.com/de/news/startups-die-durch-den-magen-gehen-teil2

[8] Ressourcennutzung und ihre Folgen | Umweltbundesamt

[9] www.infarm.com

[10] Infarm raises $170M in equity and debt to continue building its ‘vertical farming’ network | TechCrunch

[11] ATLAS: EU-Projekt fördert Agrar-Innovationen - Munich Startup (munich-startup.de)

[12] https://medium.com/touchdownvc/2020-trends-in-agriculture-investing-18d3031ac09f

 

 

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Ansprechpartner

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