05.10.2021 | News & Interviews

Startups, die durch den Magen gehen – Teil 2: Next Generation Nutrition

von Manuel Reichelt
Consulting | Digital Strategy & Transformation
Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
von Olivia Weindorf
Assurance
Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Im ersten Teil unserer Artikel-Reihe haben wir einen Überblick über das deutsche FoodTech-Ökosystem gegeben und die sieben größten Industrietrends vorgestellt (Startups, die durch den Magen gehen – Teil 1: Das deutsche FoodTech-Ökosystem). Teil 2 geht einen Schritt weiter und startet mit einem Deep Dive in das Trend-Segment Next Generation Nutrition.

Abbildung 1 – Die sieben Industrietrends im Überblick

Vegane Schnitzel, Tofu-Frikadellen oder Soja-Würstchen hat heutzutage vermutlich jeder schon einmal im Supermarkt gesehen. Zu den so genannten alternativen Proteinen, die einen wesentlichen Anteil des Marktes für Next Generation Nutrition ausmachen, zählen aber auch im Reagenzglas erzeugte Fleisch- und Fisch-Imitate, Insekten-Proteine, sowie mit künstlichen Molke-Proteinen oder pflanzlichen Hülsenfrüchte-Extrakten angereicherte nicht-tierische Milchprodukte. Aber warum erfahren alternative Lebensmittel derzeit so viel Aufmerksamkeit und ist ein künstlich erzeugtes Fleisch-Imitat wirklich gesünder für unseren Organismus als sein natürliches Vorbild?

Warum das Ganze?

7,8 Milliarden Menschen leben heute auf unserer Erde. Bis 2050 wird sich diese Zahl laut Prognosen der Vereinten Nationen auf 9,7 Milliarden erhöht haben.[1] Gleichzeitig zeigen Prognosen über klimatische Veränderungen und deren Auswirkungen, dass die globalen Emissionen bis 2050 auf unter die Hälfte des Niveaus von 1990 sinken müssen, um eine Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration zu erwirken.[2] Um eine ausreichende Versorgung aller Menschen und gleichzeitig eine Reduzierung von umweltschädlichen Stoffen zu gewährleisten, müssen sich die traditionelle Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion jedoch radikal ändern. Vor allem die Versorgung mit Proteinen spielt dabei eine zentrale Rolle, denn der wachsende Konsum von tierischen Produkten hat nachweislich negative Auswirkungen auf die individuelle Gesundheit und die Gesundheit unseres Planeten.[3] Eine stetig wachsende Zahl von Startups hat dieses Handlungsbedürfnis bereits erkannt und befasst sich darum mit der Produktion und dem Vertrieb von alternativen Proteinen. Innerhalb der letzten fünf Jahre hat sich der Markt für Fleisch-Imitate auf pflanzlicher Basis, auf Insekten-Basis und auf künstlich hergestellter Basis gemeinschaftlich betrachtet bereits verzehnfacht.[4]

Das ist nicht Fleisch und nicht Fisch!

Fleisch-Imitate auf pflanzlicher Basis sind heutzutage kein Hexenwerk mehr. In Asien versorgen Lebensmittel wie Tofu, Tempeh und Saitan die Menschen sogar bereits seit Jahrhunderten mit Eiweiß. Auch auf dem europäischen Markt haben diese Produkte schon vor Jahren mehr oder weniger erfolgreich Einzug gehalten. Größerer Beliebtheit erfreuen sich hierzulande jedoch Lebensmittel, die in ihrer Konsistenz näher am echten Fleisch dran sind. Diese werden in der Regel durch den Einsatz von entöltem Sojamehl, Sojaproteinkonzentraten oder Weizengluten hergestellt, wodurch den Proteinen eine fleischähnliche, faserige Struktur verliehen wird. Um die Verbraucherakzeptanz für pflanzliche Fleischersatzprodukte noch weiter zu erhöhen, forschen viele Startups an der Optimierung von Faktoren wie der allgemeinen Qualität, dem Geschmack, der Saftigkeit, der Bissfestigkeit und der Nährwerte des pflanzlichen Fleischs. Z.B. arbeitet in Wiggensbach/Allgäu die Sunflower Family schon an einer pflanzlichen Hackfleischalternative.   

Neben den bereits bekannten, rein pflanzlichen Fleisch- und Milchprodukt-Alternativen wird die Zukunft der Proteinvielfalt immer mehr zellbasierte Produkte einschließen. Dabei werden beispielsweise Hühnerzellen im Labor skaliert und „geerntet“. Auf diese Weise können aus einer einzelnen Zelle mehrere Milliarden Zellen im Reagenzglas gezüchtet werden, die als Nahrungsmittel und Proteinersatz verzehrt werden können. Dieses so genannte kultivierte Fleisch hat den Vorteil, dass es geschmacklich und hinsichtlich seiner Konsistenz nicht mehr oder kaum noch vom Original unterschieden werden kann und daher auf ein höheres Interesse beim Verbraucher stößt. Leider ist es schwierig, in Europa und insbesondere in Deutschland ein Startup zu gründen, das kultiviertes Fleisch produziert. Das liegt einerseits an den durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) festgelegten umfangreichen Regularien. Bislang wurde in Deutschland noch keine Zulassung für die Herstellung von kultiviertem Fleisch erteilt. Orientiert man sich an der üblichen Dauer von EFSA-Zulassungsverfahren, könnte es schätzungsweise 24 Monate dauern, bis ein Regulationsprozess vom Antrag bis zur Zusage abgeschlossen werden kann Somit ist mit kultiviertem Fleisch in deutschen Supermärkten sehr wahrscheinlich frühestens Ende 2023 zu rechnen – und das auch nur dann, wenn ein Zulassungsantrag schon heute gestellt werden würde. Andererseits gibt es in Deutschland keine Fördermöglichkeiten für Startups, die Fleisch-Imitate im Reagenzglas züchten wollen. David Brandes, der Gründer von Peace of Meat, sagt: „2018/2019 hätte ich gerne ein FoodTech-Unternehmen in der DACH-Region gegründet. Aber in Belgien, wo sich unsere Firma letztlich angesiedelt hat, wird der Zugang zu staatlichem Kapital und struktureller Unterstützung deutlich proaktiver zur Innovationsförderung eingesetzt. Auch Holland und Israel sind in dieser Hinsicht weiter. Gerade im letzten Jahr hat sich in der DACH-Region allerdings sowohl auf staatlich-regulatorischer Ebene als auch in Bezug auf private Akteure und Vereinigungen einiges getan, der internationale Wettbewerb bleibt also spannend.“ In Belgien produziert das junge Unternehmen nun kultivierte Fette im B2B-Play. Das heißt, dass die Fette als Inhaltsstoff an Produzenten von pflanzenbasierten Fleisch-Imitaten verkauft werden, die damit ihrerseits en Produkt fertigen können, das mehr nach echtem Fleisch schmeckt.



Abbildung 2 – Kultiviertes Fett, ©Peace of Meat

 

Weniger stark reguliert ist dagegen die Produktion von kultiviertem Fisch. Was in den USA bereits ein großer Trend ist, wird in Deutschland u.a. durch die Berliner Startups Bluu Biosciences und Planetary Foods ins Rollen gebracht. Kultivierter Fisch hat gegenüber kultiviertem Fleisch aber auch andere Vorteile, die den Produktionsprozess vereinfachen: Die erzeugten Zellen sind temperaturresistenter und das Muskelfleisch des Fisches ist weniger komplex, sodass die Weiterverarbeitung zu strukturierten Lebensmitteln einfacher ist als bei Fleisch. „Das Beste daran: Es schmeckt wie echter Fisch“, findet Bluus Co-Gründer Simon Fabich, der den Labor-Fisch selbst probiert hat. „Außerdem können kultivierte Zellen an den Menschen und dessen Bedürfnisse angepasst werden. Wir können beispielsweise den Omega3-Gehalt des Fisches maximieren und damit die gesundheitlichen Vorzüge von Fisch gegenüber Fleisch noch verstärken.“ Auch die regionale Bindung an bestimmte Fischarten kann durch zellbasierte Verfahren aufgelöst werden. Jede Fischart kann an jedem Ort hergestellt werden – unabhängig davon, wie weit dessen heimisches Gewässer entfernt liegt. Aus der Sicht des Gründers sei es nicht mehr länger vertretbar, Fisch und Fleisch auf traditionelle Art zu erzeugen, wenn die Herstellung im Labor so viel nachhaltiger und gesünder sei. Außerhalb des Reagenzglases schwimmen auch pflanzliche Fisch-Imitate im Innovationsmeer der FoodTech-Szene mit. Diese Produkte sind bereits marktreif und darum schon jetzt eine greifbare Alternative für den Verbraucher. Happy Ocean Foods aus München und Wunderfish aus Berlin wollen mit ihren Produkten gegen die Überfischung der Weltmeere vorgehen und der Fischerei gleichzeitig eine Erwerbsalternative bieten. Denn: ihre pflanzlichen Sea Foods bestehen zu wesentlichen Teilen aus Meeresalgen.

Kaum am hiesigen Markt durchgesetzt haben sich bislang Insekten-Proteine, wie sie beispielsweise von der Bug Foundation (Osnabrück), Wicked Cricket (München) oder Swarm Protein (Köln) hergestellt werden. Die Nachfrage der Verbraucher nach diesen Produkten ist in den westlichen Teilen der Bevölkerung eher verhalten.[5] In anderen Regionen haben sich Insekten auf der Speisekarte dagegen längst etabliert. So wird der krabbelige Markt bis 2023 voraussichtlich einen globalen Wert von einer Milliarde Euro erreichen.[6] Einsatz finden die Protein-Bomben in Deutschland aber dennoch: Als Futter für Tiere innerhalb der fleischverarbeitenden Industrie.

Am internationalen Markt existieren weitere Lösungsansätze für eine nachhaltigere und umweltschonendere traditionelle Fleischproduktion. So forscht das schwedische Startup Volta Green beispielsweise an der Verwendung von Rotalgen als Futtermittel für Kühe. Die dabei freigesetzten Stoffe können den Methanausstoß der Kühe um bis zu 80 % reduzieren. Strittig ist bislang jedoch noch, ob weitere Inhaltsstoffe Langzeitschäden bei Tier und Konsument verursachen können.[7]

Eine gesunde Ernährung besteht natürlich nicht nur aus Fleisch und Fisch. Um Abwechslung auf den tierfreien Teller zu zaubern, widmen sich einige Startups auch der Herstellung von alternativen Milchprodukten. Auch das gelingt bislang entweder auf pflanzlicher oder auf zellulärer Basis. In Berlin brodeln die Kochtöpfe dabei besonders laut: Während das Startup Legendairy Foods in seinen Laboren veganen Mozzarella aus künstlichen Milcheiweißen kultiviert, entwickeln und vertreiben VlyFoods pflanzliche Milchalternativen auf Basis von Spalterbsenprotein. In München setzt man dagegen auf Leistungsfähigkeit: Die Yfood Labs werben mit einem veganen Power-Drink als kompletten Mahlzeitenersatz. Und im Allgäu hat sich Simply V auf die Herstellung einer pflanzlichen Käse-Alternative fokussiert.

Und was ist gesünder?

So lecker und umweltschonend eine vegetarische oder vegane Ernährung ist, so heftig wird sie auch seit jeher diskutiert. Unklarheiten und Kontroversen heizen insbesondere öffentliche Auseinandersetzungen mit dem Thema immer wieder an. Der griechische Arzt Hippokrates sagte seinerzeit: „Eure Nahrung sei eure Medizin und eure Medizin sei eure Nahrung“ und meinte damit nichts anderes, als dass Krankheit und Gesundheit unmittelbar mit unserer Ernährung zusammenhängen. Nach Ansicht der Academy of Nutrition and Dietetics,[8] ist eine gut gestaltete vegan-vegetarische Ernährung für alle Alters- und Lebensphasen geeignet. Zurückhaltender ist die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), die sich nicht klar für eine vegane Ernährung in allen Lebensphasen ausspricht.[9] Erwiesen ist dagegen, dass Vegetarier*innen und Veganer*innen seltener an „Volkskrankheiten“ wie Herzerkrankungen, Typ-2-Diabetes und Übergewicht erkranken als Menschen, die viele Fleischprodukte konsumieren. Auch die Cholesterinwerte im Blut unterscheiden sich deutlich zu Gunsten der nicht-fleischverzehrenden Bevölkerung, da pflanzliche Lebensmittel einen sehr geringen Cholesterol-Anteil aufweisen.[10] Ein starker Zusammenhang besteht Studien zufolge zudem zwischen der Erkrankung an Darmkrebs und dem übermäßigen Verzehr von rotem und verarbeitetem Fleisch.[11] Allerdings beschäftigen sich vegan oder vegetarisch lebende Menschen häufig generell sehr viel mit Themen wie Ernährung, Inhaltsstoffen und Nährwerten und pflegen einen insgesamt gesünderen, von körperlicher Aktivität geprägten Lebensstil, sodass die positiven Auswirkungen auf Körpergewicht und Herzgesundheit natürlich zusätzlich verstärkt werden und nicht allein auf die fleischlose Komponente in der Ernährung zurückgeführt werden können.

Neben möglichen Auswirkungen des Fleischkonsums auf unsere Gesundheit per se, haben auch externe Faktoren in der Fleischproduktion einen Einfluss auf uns. Der hohe Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung kann beispielsweise zu Antibiotikaresistenzen beim Konsumenten führen, die eine Behandlung von Erkrankungen zunehmend erschweren. Rund 733 Tonnen Antibiotika werden in Deutschland pro Jahr an Tierärzte abgegeben.[12] Im Freiland gehaltene Tiere weisen darüber hinaus eine hohe Dioxinbelastung auf,[13] die unserer Leber erheblich schadet.[14] Aufgrund dieser externen Umstände ist bislang unklar, ob auch der Verzehr von Fleisch-Imitaten aus dem Reagenzglas dieselben gesundheitlichen Risiken mit sich bringt wie der Verzehr von traditionellem Fleisch. Oder anders gesagt: So lange nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, ob die negativen Folgen für unsere Gesundheit aus dem Fleischverzehr an sich resultieren oder ob sie im Wesentlichen auf die Tierhaltung und Weiterverarbeitung zurückzuführen sind, kann keine valide Aussage darüber getroffen werden, ob zellbasiertes Fleisch gesünder als herkömmliches Fleisch ist. Zudem ist bislang nicht vollständig erforscht, ob zellbasiertes Fleisch seinerseits noch ganz andere, negative Auswirkungen auf unseren Organismus haben kann.  

Auch bei pflanzenbasierten Fleisch- und Milchalternativen ist nicht alles Gold, was glänzt. Insbesondere zwischen konventionellen Erzeugnissen und solchen aus ökologischer Erzeugung bestehen zum Teil große Unterschiede hinsichtlich ihrer enthaltenen Zusatz- und Nährstoffe.

 

 

[1] https://www.dsw.org/weltbevoelkerung/

[2] https://www.umweltbundesamt.de/themen/klima-energie/klimawandel/zu-erwartende-klimaaenderungen-bis-2100

[3] Umweltbundesamt – Die Zukunft im Blick: Fleisch der Zukunft, 2019

[4] The State of European Food Tech 2021, Five Seasons Ventures and dealroom, March 2021

[5] van Huis & Tomberlin, 2017c

[6] Fleischatlas, Heinrich Böll Stiftung, Januar 2021

[7] Kann unser Fleisch mit Algen klimaneutral werden, Deutsche Welle, April 2021

[8] Zusammenschluss aus rund 67.000 Ernährungsberaterinnen und -beratern, Forscherinnen und Forschern sowie medizinischen Fachleuten

[9] Sonderheft „Vegane Ernährung“ der Ernährungs Umschau 2020

[10] https://albert-schweitzer-stiftung.de/themen/vegan-gesund / Crowe, Appleby, Travis & Key, 2013 / Huang et al., 2012 / Sinha, Cross, Graubard, Leitzmann & Schatzkin, 2009 / Heseker, H. & Heseker, 2015

[11] Bouvard et al., 2015; Godfray et al., 2018; Stewart & Wild, 2014

[12] Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), 2019

[13] (Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), BfR, UBA & RKI, 2011

[14] BfS et al., 2011)

 

 

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